Kanal 666
Originaltitel: Canale 666, ursprünglich erschienen 1987, Italien
Autor: Tiziano Sclavi
Zeichner: Carlo Ambrosini
Cover: Claudio Villa
Beobachtungen von Tobias O. Meißner
Da es in dieser Episode ums Fernsehen und also auch um ein Blitzlichtgewitter der Bilder geht, wird in ihr besonders viel und munter durcheinanderzitiert. Ich will versuchen, Schritt zu halten.
– Howard Beale ist eine Figur aus Sidney Lumets Film “Network” von 1976. Er sieht im Film (von Peter Finch dargestellt) ein wenig anders aus, hat aber genau wie im Comic die Schnauze voll vom Nachrichtenspecherdasein und kündigt seinen Selbstmord vor laufender Kamera an.
– S. 210: Dank an die Übersetzerin für die Erläuterung (und Beibehaltung) des Begriffes “Paninaro”, den ich noch nie gehört hatte. Das waren also quasi die italienischen “Popper”.
– S. 215, erstes Bild: Diese Fischaugenperspektive ist sehr interessant. Sie entspricht nicht dem letzten Blick des Sterbenden (der ja im Bild zu sehen ist), aber auch keiner Kamera, weil hinter ihm eigentlich nur Wand ist. Es könnte seine davonfliegende Seele sein, die die Welt so wahrnimmt, gleichzeitig geht dieser Seelenblickwinkel dann ins Fernsehprogramm über.
– S. 217 und folgende: Die Seifenoper “Destiny” ist eine Mixtur aus “Dynasty” (1981 – 1989) und – wie wir auf S. 229 anhand des texanischen Hutes sehen werden – “Dallas” (1978 – 1991). Seit 2014 gibt es übrigens ein hochkarätiges Computerspiel namens “Destiny”.
– S. 222, erstes Bild: Das leere Zimmer mit dem wehenden Vorhang assoziiert eine sehr verstörende Selbstmordszene aus dem Film “The Front”/”Der Strohmann” von Martin Ritt aus dem Jahre 1976.
– S. 223: Hier wunderte ich mich sehr darüber, dass die Klingel nicht “schreit”. Im Folgenden wird das ausführlich erklärt, und es ist sehr originell, dass die Klingel der Klientin stattdessen “schreit”, und es auch dafür eine Erklärung gibt.
– ebenfalls S. 223, vorletztes Bild: Fernsehserien mit Zombies sind ja erst heute in Mode. Es könnte sich hierbei sogar um eine Verfilmung von Dylan Dogs allererstem Abenteuer handeln.
– ebenfalls S. 223, letztes Bild (sowie auf S. 266): Melonenalarm!
– S. 225, Bild 4: Dylan spricht hier von “14 Monaten”, die ihn seine Klingel schon nervt. Da dies die 15. Episode von “Dylan Dog” ist, lief die Serie also seit 14 Monaten – erzählte Zeit und Realzeit werden eins.
– S. 226, erstes Bild: Hier finde ich bemerkenswert, dass Dylan zwischen seinen ganzen okkulten und Jahrmarktsbuden-Paraphernalia offensichtlich auch eine spießige Schmetterlingssammlung zu besitzen scheint (ich finde aufgespießte Schmetterlinge aber auch extrem gruselig.)
– S. 227 bis 242: Diese gesamte “unterbundener Selbstmord”-Sequenz wird durch das Outfit der Schauspielerin extrem sexualisiert. Das sadistische Vergnügen, das Dylan dabei zu empfinden scheint, sie permanent zu ohrfeigen und in demütigende Haltungen am Klo zu zwingen, hängt damit zusammen. Ich sehe hier eine neue, dunkle Seite Dylans zum Vorschein kömmen, die “Fifty Shades of Grey”-Leserinnen begeistern könnte …
– S. 232, 3. Bild: Hier gibt sich Fernsehprominenz ein Stelldichein. Einwandfrei kann ich jedoch nur (als 2. von links) Telly Savalas aus der Serie “Kojak” (1973 – 1978) identifizieren, die anderen sind wahrscheinlich lediglich in Italien geläufig. Die Frau ganz rechts könnte die Ehefrau von Corrado Cattani aus dem wahrscheinlich erfolgreichsten italienischen Serienexport aller Zeiten, “La Piovra”/”Allein gegen die Mafia” (erste Staffel: 1984) sein, aber der Typ neben ihr hat nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit Michele Placido, ich bin mir da also nicht sicher.
– S. 234, letztes Bild: Der berühmte Augenschnitt aus “Ein andalusischer Hund” von Luis Bunuel, aus dem Jahre 1929.
– S. 243 und folgende: Diese Sequenz mit dem sich selbständig machenden Fernseher und den aus ihm hervortretenden Dingen nimmt natürlich hauptsächlich Bezug auf David Cronenbergs “Videodrome” von 1983, aber ich finde besonders interessant, dass hier ein modernerer Filmmythos, nämlich das aus dem Fernseher kriechende Mädchen Sadako (erstmals in “Ringu” von 1998 und danach in schier unzähligen weiteren japanischen Filmen sowie zwei amerikanischen Remakes) vorweggenommen wird. Der “Ringu”-Zyklus ist heutzutage wohl das eindrücklichste und geläufigste Beispiel dafür, welche Bedrohlichkeit ein Fernsehgerät entwickeln kann. (Obwohl es genau genommen nicht ums Fernsehen geht, sondern – wie bei Cronenberg – um Videos.)
– Das italienische Fernsehen ist ja europaweit bekannt/berüchtigt, unter anderem auch für die Entwicklung von Formaten wie “Tutti Frutti”. Auch Berlusconi mischte ja lange im Fernsehgeschäft mit. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich in dieser Sequenz mehrere Anspielungen auf italienische Fernsehfloskeln verbergen.
– S. 254, 4. Bild: Dass Scotland Yard Dylans Dienstausweis nicht zurückverlangt hat ist eine Behördenschlamperei ersten Ranges. Damit kann ja jeder Schindluder treiben! 😉
– ebenfalls S. 254, letztes Bild: Dass er die schlafende/k-o-tropfen-betäubte Schöne nun auch noch küsst, macht aus ihm einen veritablen Schurken.
– S. 265, 1. Bild: Der Cowboy mit dem hohen Hut, von dem Groucho in seinem Zimmer ein Poster hat, ist Tom Mix, der in der Stummfilmzeit (also genau genommen vor der Zeit der Marx Brothers) in rund 300 Filmen mitwirkte. Bette Davis dagegen war eine Zeitgenossin von Groucho.
– S. 272, erstes Bild: Der Name “Sidney Lumeth” verweist nun auch direkt auf den Regisseur von “Network”, Sidney Lumet (siehe die erste meiner Anmerkungen) , der seine Karriere auch tatsächlich beim Fernsehen begonnen hat. Sein brillanter erster Spielfilm, “Die zwölf Geschworenen”, profitiert stark von Lumets Fernsehspiel/=Kammerspiel-Erfahrung. Lumet sah aber ganz anders aus als der Lumeth im Comic. Auf dem Monitor rechts läuft übrigens Romeros “Dawn of the Dead”/”Zombie”, der auf S. 259 bereits erwähnt/angekündigt wurde.
– S. 286: Auch diese Szene nimmt etwas um beinahe zehn Jahre vorweg, nämlich das schauerliche Finale von “Cable Guy” (1996), einem Film von Ben Stiller, in dem Jim Carrey nach zuviel Fernsehkomsum bedrohlich durchgedreht ist.
– S. 298: Dieser Fernsehmogul hat ein sehr distinktes Aussehen, als wäre er jemandem Bestimmtes nachempfunden. Es könnte Berlusconi sein (lange vor seinen Regierungszeiten), aber ich bin mir nicht ganz sicher. (Berlusconi und seine Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge werden übrigens auch in der oben erwähnten Fernsehserie “Allein gegen die Mafia” thematisiert.) Interessant ist jedenfalls, dass die Kommunikationssatellitentechnik zur Zeit der Entstehung dieser Dylan-Dog-Episode noch verhältnismäßig neu und unerforscht war, das Privatfernsehen und mit ihm Satellitenkanäle wie z. B. 3SAT starteten erst in den 80er Jahren.
Sclavi assoziiert wild und ein wenig konservativ (Fernsehzuschauer = geistlose Zombies, Fernsehen = Verstrahlungswaffe in den Händen srupelloser Mächtiger), schafft dabei aber auch immer wieder verblüffende Verknüpfungen. So korrespondiert das zufällig wirkende Tom-Mix-Poster in Grouchos Zimmer mit Dylans Bemerkung auf S. 292, wie ein “Westernheld” angeschossen worden zu sein. Am stärksten werden diese permanenten Vermengungen von Realismus und blutig-galliger Mediensatire immer dann, wenn sie etwas Rührendes bekommen, so z. B. wenn das alte, tote Pärchen über ihre Statistenrolle auch in diesem Comic nachdenkt und dann den sie betrachtenden “komischen” Groucho entdeckt, oder wenn der Techniker, der sich das Hirn herausreißt, “glücklich” ist. Diese Geschichte galoppiert so wild querfeldein, dass die Versicherung auf der vorletzten Seite, wir hätten doch als Gegenmittel “die Liebe”, etwas platitüdenhaft und wenig überzeugend wirkt. Aber durch den Horror der “Wiederholung” auf der letzten Seite und die erneute (und ewig wiederkehrende) Konfrontation mit sämtlichen Opfern wird dies dankenswerterweise augenzwinkernd ad absurdum geführt. Sclavi ist zu schlau (und zu sehr melancholischer Skeptiker) für Platitüden.
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