Zwischen Leben und Tod
Originaltitel: Tra la vita e la morte, ursprünglich erschienen 1987, Italien
Autor: Tiziano Sclavi
Zeichner: Luigi Piccatto
Cover: Claudio Villa
Beobachtungen von Tobias O. Meißner
Das Krankenhaus als Ort des Unheimlichen, der Furcht vor dem Sterben und des Sterbens selbst – das ist ja schon einmal eine packende Idee. Michael Crichtons “Coma” (1978 verfilmt) mag hier ein bisschen Pate gestanden haben, aber Lars von Trier kam mit seiner Fenrsehserie “Geister” erst sieben Jahre nach “Dylan Dog” auf diese Idee.
In dieser Episode fiel mir auf, dass Zeichner Piccatto auf die sonst üblichen Heere von Melonenträgern verzichtet, die ich im London der 80er stets für unrealistisch halte. Gut so!
Dafür pflegt er die mir auch andernorts in “Dylan Dog” schon aufgefallene Marotte des unmotivierten Zwischenschnitts, so auf S. 127 raus zum Auto und – irgendwie, obwohl das kaum möglich scheint, noch nichtssagender – auf S. 136 raus zur Vorderseite der Tür. Warum kann man nicht einfach in der Dialogszene bleiben? Kein Leser wird sich gedacht haben: “Mensch, ich würde jetzt zu gerne wissen, was sich am Briefschlitz tut. Vielleicht kommt ja spannende Post!” Ich denke immer, da sitzt ein Editor bei Bonnelli, der die fixe Idee hat, längere Dialoge müsse man durch Zwischenschnitte nach draußen optisch aufbrechen. Nein, muss man nicht, es bringt nichts und irritiert nur.
– S. 133: Die Darstellung des Geistes ist eigenartig. Einerseits scheint er transparent zu sein, andererseits jedoch (Bild 5) einen Schatten zu werfen, was nun wirklich unüblich wäre bei einem Geist.
– Auf S. 138 im ersten Bild und S. 151 im vierten Bild ist derselbe ominöse Typ zu sehen, der sich inzwischen umgezogen zu haben scheint. Rätselhaft, oder?
– Der Penner in der Mordszene S. 158 bis S. 164 hat ein sehr distinktes Aussehen, ich bin mir sicher, er wurde einem realen Vorbild nachempfunden. Man sieht das auch daran, dass das letzte Bild von S. 158 und die ersten beiden auf S. 161 beinahe identisch aussehen, als wären sie nach Fotos gezeichnet worden. Das Aussehen sagt mir jedoch nichts, wahrscheinlich handelt es sich um jemanden, der nur in Italien prominent ist.
– S. 160 die untere Bildreihe: Sehr stark finde ich hier den “Gang” des Schwerverwundeten. Die jeweils untere Bildhälfte zeigt seine Beine aus subjektiver Perspektive, die oberen Bildhälften zeigen das, was er vor sich sieht und ansteuert. Dadurch entsteht der absurde Effekt, er würde mit den Füßen voran durch die Gasse schweben, was durchaus zu seinen verworrenen (er ist volltrunken und schwer verletzt) Wahrnehmungen passt. Es erinnert mich an die unmögliche Art, wie Martin Balsam in Hitchcocks “Psycho” rückwärts eine Treppe hinunterstolpert, als würde er geradezu schwerelos von Treppenkante zu Treppenkante tänzeln. Dort wie hier wird ein von Messerstichen tödlich Verletzter thematisiert.
– S. 164: Es scheint eine schamhafte Regel beim Colorieren der “Dylan-Dog”-Geschichten zu geben: Die Brustwarzen von Frauen dürfen nicht dunkler sein als der Rest der Brust. Vgl. in vorliegendem Band auch die Seiten 44 und 70, sowie 178 durchgängig bis 181. Der Colorist umgeht dieses Gebot jedoch frech im vierten Bild auf S. 164, allerdings dermaßen diskret, dass es nur dem aufmerksamsten Betrachter auffallen dürfte.
– S. 167, viertes Bild: Hier wird “Coma” direkt erwähnt, allerdings nicht der Film, sondern der zugrundeliegende Roman.
– S. 167, untere Bildreihe: Um die Abkürzung B.O.A.D. bilden zu können, musste in Dylans Bibliothek der Zeichner Charles Addams (Schöpfer der “Addams Family”) kurzerhand zwischen die literarischen Schwergewichte Bierce, O. Henry und Dickens eingeordnet werden, und das im Rahmen einer einheitlich gestalteten Buchreihe, wozu kein Verleger unserer Erde progressiv genug wäre. Dennoch ist es eine hübsche Idee: Alle Autoren waren entweder unheimlich, dunkel humoristisch oder zumindest sehr stimmungsvoll, und der Zeichner Addams liegt natürlich dem Comicmedium besonders nahe.
– Die Kühlkammer-Sequenz (S. 187 bis 195): Pathologien sind sicherlich unheimliche Orte in Krankenhäusern. Aber ich bezweifle, dass dort Leichen an Haken hängen. Und dass ein Anästhesist, der ja kein Chirurg ist, aus Einzelteilen einen neuen Organismus zusammenfügen kann. Aber geschenkt: es scheint ja nur ein Narkosetraum zu sein. Denn sehr oft, wenn die Serie “Dylan Dog” sich dermaßen weit vorwagt ins Unfassbare, entpuppt es sich als Traum oder Vision. Aber warum wird Dylan überhaupt operiert? Und dann erst, wenn Bloch an Dylans Krankenbett auftaucht, begreift man: Das mit dem Patchworkmonster ist wirklich passiert, die OP danach mit der Nahtoderfahrung war notwendig, um Dylan selbst wieder zusammenzuflicken, und nun liegt er im Krankenhaus.
Übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie sorgfältig “Dylan Dog” konzipiert ist: Wenn man davon ausgeht, dass Dylan einen klassischen sechsschüssigen Trommelrevolver sein eigen nennt (so sieht die Pistole ja aus, siehe dazu auch das in der Kühlkammer spielende Titelbild des vorliegenden Libellus-Bandes, bei dem sogar schöner noch als in der eigentlichen Geschichte auf den in einem Kühlbereich zu sehenden Atem geachtet wurde), dann hat er auf S. 179 unten den ersten Schuss abgegeben, um die Scheibe zu zerschießen, auf S. 183 die Schüsse 2 und 3, auf S. 185 die Schüsse 4 und 5, und auf S. 195 oben den sechsten, letzten und entscheidenden Schuss. Folgerichtig ist danach seine Munition alle. Passt perfekt.
– Eine böse Pointe gibt es noch. Und das “Tutump”-Herzschlag-Geräusch, mit dem die Episode begann, und mit dem auch die Kühlkammer-Sequenz untermalt wurde, beendet die Episode, aber es ist nicht- wie man zuerst dachte – der Herzschlag eines Alpträumenden oder eines Angeschossenen, sondern der einer monströsen Kreatur.
(Noch ein Detail: Verfolgt man diesen Herzschlag auf S. 195, bekommt man bereits mit, dass die “Bruder”-Kreatur stirbt.)
– Und im letzten Bild der letzten Seite ganz rechts am Rand: dann doch noch in der allerletzten denkbaren Sekunde eine Melone…)
Macht jedenfalls Angst, sich in ein Krankenhaus zu begeben, diese Episode. Auch das gar nicht weit hergeholte Thema “Narkosetod” wird ja ausführlichst behandelt. Wäre die Geschichte aus heutiger Zeit, würde es auch noch um Krankenhauskeime gehen. Horror mit stark realistischem Herzschlag, sozusagen.
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