Stille Dämmerung

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Originaltitel:La zona del crepuscolo, ursprünglich erschienen 1987, Italien
Autor: Tiziano Sclavi
Zeichner: Montanari & Grassani

Beobachtungen von Tobias O. Meißner

– Zuerst einmal habt ihr meinen Wunsch erfüllt und gebt nun das Erscheinungsdatum samt Erscheinungsmonat an. Klasse, vielen Dank dafür, ich halte das für eine durchaus nützliche Information.
– Wenn ich das richtig sehe, bedeutet “La Zona del Crepuscolo” eigentlich “Die Zone der Dämmerung” (vgl. S. 65) oder auch “Zone des Zwielichts”.
Das wiederum ist eine genaue Übersetzung des amerikanischen Begriffes “Twilight Zone”, dem Titel jener bahnbrechenden Fernsehserie, die Anfang der 60er Jahre die US-Zuschauer das Fürchten lehrte und sämtliche amerikanische Regisseure phantastischer Filme der Spielberg- und Carpenter-Generation nachhaltig beeinflusst hat. Schon in den ersten fünf Folgen der “Twilight Zone” geht es zweimal um beschauliche Kleinstädte, mit denen etwas nicht stimmt, die erste ist menschenleer und existiert eigentlich gar nicht, die zweite liegt in der Vergangenheit.
– S. 13: Der Name “Herr Belknap” verweist auf Frank Belknap Long, einen Horrorautor aus dem Lovecraft-Umfeld. Bezeichnenderweise heißt auf S. 15 die Sekretärin von Herrn Belknap Frau Long, sodass der Name beinahe komplett ist.
– Bemerkenswert finde ich, wie schnell in Inverary die Zeit vergeht. Auf S. 15 ist es entweder 16:25 Uhr oder 17:20 Uhr, auf S. 20 ist es entweder 17:35 Uhr oder 18:25 Uhr, aber wenn Mabel dann auf S. 21 nach einem kurzen Fußweg zuhause ankommt, ist es bereits eindeutig 20 Uhr.
– Auf S. 25 fiel mir auf, dass die Farbfassung tatsächlich einen Mehrwert darstellt. Die typische rote englische Telefonzelle ist ein prägnantes Element innerhalb der grünbraunen Landschaft (und korrespondiert wie zufällig mit Dylans Hemdfarbe, denn den hat Mabel ja angerufen.)
– S. 30: Hier spinnt Dylan. Er behauptet, er sei nach links gefahren, kann aber nur nach rechts gefahren sein, nämlich vom Land ins Wasser. Wer’s nicht glaubt: Auf S. 31 sieht man im zweiten Bild sogar noch die Reifenspuren hinter dem Wagen – eine eindeutige Rechtskurve. Groucho hat in dieser Szene also recht, wird aber von seinem “Boss” Dylan überstimmt und als Grundschüler diffamiert. Ganz schön ungerecht.
– Auf S. 37 ist mir kein einziger Hammer-Horrorfilm eingefallen, in dem ein Schiff vorkommt. In der Regel hatten die Hammer-Studios kein hohes Budget, sodass ihre Filme meistens in Innenräumen, Schlössern, Dörfern oder Wäldern spielen, selten auf See. Die aus den Nosferatu-Filmen geläufigen Schiffsszenen fehlen z. B. in den Dracula-Filmen der Hammer-Studios völlig. Zumindest, soweit ich das aus dem Kopf rekapitulieren kann. Ich mag mich hier irren. (Aber ich habe letzte Woche Hammers “The Viking Queen” gesehen – auch kein einziges Schiff, nirgends! :))
– S. 37: Den Namen “Charon” muss ich, glaube ich, genauso wenig erläutern wie Mabels Familiennamen “Carpenter”, der sich hier wohl in erster Linie auf “The Fog – Nebel des Grauens” bezieht. Bei Frank Belknap Long gehe ich eher davon aus, dass der nicht so geläufig ist.
– S. 40 bis 47: Die Seenotszene ist sehr schaurig. Dylans Selbstzweifel, ob das Mädchen wirklich schon tot war, oder ob er sie nicht vielmehr aus Wunschdenken geopfert hat, um sich selbst retten zu können, stellen ein scheußliches Dilemma dar.
– S. 60, mittleres Bild: Hier haben wir wieder einen Argento-Verweis. In “Die neunschwänzige Katze” findet sich die wohl beunruhigendste Gruft-Szene der Filmgeschichte, mit genau demselben Bildaufbau wie hier im mittleren Bild.
– Ebenfalls S. 60: Der in den 1890ern geborene Carpenter dürfte eher Mabels Urgroßvater als ihr Großvater sein, es sei denn, er hat erst mit über 40 Nachwuchs gezeugt, was damals aber wohl eher unüblich war. Dadurch, dass Mabel aber bereits 1926 geboren wurde (wie auf S. 61 herauskommt), wird er sogar zum Vater.
– S. 62: Interessant, wie Xabaras immer wieder erwähnt wird, und – trotz Abwesenheit – dadurch mehr und mehr zum Erzfeind Dylans aufgebaut wird (siehe auch S. 70, wo Dylans Hass auf ihn fast schon manische Züge annimmt.) Dass in diesem Zusammenhang die Sprache immer wieder auf Dylans Vater kommt, steht übrigens NICHT in Widerspruch zur allerersten Episode, wo der Name “Xabaras” Dylan noch nichts sagte (siehe Band 1 dieser Libellus-Edition, S. 32). Auf der dortigen S. 65 erklärte Dylan, dass sein Vater ihm zwar von Xabaras erzählte, ihn aber nur unter dem Namen “Abraxas” kannte. Und auf der dortigen S. 70 erzählte wiederum Xabaras, dass auch Dylans Vater schon ein “Jäger des Grauens” war. Diese zugrundeliegende, fortlaufende Geschichte ist sehr neugierig machend, neugierig auf Dylans Vater und dessen Verbleib.
– S. 71: Ich glaube, noch nie ist in einem Film oder in einem Comic ein mit Rohren oder Stangen beladener Laster aufgetaucht, ohne dass anschließend entweder jemand von den Stangen durchbohrt wird oder die Rohre mindestens alle auf die Straße rollen. ^^
– Die “Rekonstruktionsszene” auf den S. 78 und 79 ist einem bestimmten amerikanischen Film entlehnt. Ich verrate noch nicht, welchem, das mache ich in der Zusammenfassung meiner Bemerkungen zu dieser Folge.
– Auf S. 82 beginnt etwas, das wohl eine der wohl längsten Erklärungssequenzen der Comicgeschichte sein dürfte. Satte 24 Seiten lang erklärt Doktor Hicks Dylan, was Sache ist. Innerhalb dieser Sequenz gibt es eine Überraschung: Die acht Seiten lange Umsetzung einer Edgar Allan Poe-Geschichte. Hier hätte ich es genial gefunden, wenn diese Geschichte von einem anderen Zeichner in einem anderen Stil gefertigt worden wäre, aber das ließen wohl die Produktionsbedingungen beim Bonelli-Verlag nicht zu. Die Adaption ist aber erstaunlich gut gelungen und grässlich (Kompliment auch an die deutsche Übersetzerin, die sich die Mühe gemacht hat, eine literarische Übersetzung zu “importieren”, und nicht einfach nur Poe aus dem Italienischen heraus neu zu übertragen).
Ich stimme übrigens der Einschätzung des Doktors, dass “The Facts in the Case of M. Valdemar” eher traurig als schaurig ist, nicht zu. Ich halte dies für eine der krassesten Poe-Geschichten überhaupt, denn es geht ja nicht darum, einen Sterbenskranken zu heilen (also den Tod zu besiegen), sondern darum, einen bereits Verwesenden noch seine Eindrücke schildern zu lassen. Poe spart da nicht mit ekligen Details und nimmt ganz konkret die ebenso unangenehme “Cool Air”-Geschichte Lovecrafts vorweg.
Ein nettes Detail dieser Comic-Adaption ist, dass der Ich-Erzähler tatsächlich Poe ähnlich sieht, also Poe selbst sein soll.
– S. 98: “Vergerus” ist der Name des strengen Bischofs in Ingmar Bergmans “Fanny und Alexander”, aber das kann natürlich auch ein Zufall sein. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass Sclavi Bergmans Filme mag, wegen der oft rational nicht mehr erklärbaren mystischen Verklärungen.
– S. 106: Dass Dylans Stimme aus dem “Off” als Erzähler spricht, kommt, glaube ich, sehr selten vor, und wird hier auch nur für eine einzige Seite verwendet
– S. 107: Herr Belknap hat gegenüber dem Anfang der Geschichte eine ganz andere Frisur, aber das ist sicherlich Teil seiner Generalüberholung…
Nun zusammenfassend (und mit der Auflösung meines “Filmrätsels”): Die ganze Geschichte ist sehr stark beeinflusst von dem Film “Dead and buried” von 1981, in dem in einem Küstenstädtchen namens Potters Bluff die Bewohner ab und zu den Fleischfarbentiegel des hiesigen Bestattungsunternehmers benötigen, um sich wieder aufzufrischen… (Ich will nicht zuviel spoilern. Der Film ergibt nicht den geringsten Sinn, ist aber äußerst atmosphärisch und unheimlich. Auch Tiziano Sclavi opfert ja durchaus gerne mal die Logik zugunsten von originellen Assoziationen und ironisch-poetisch erörterten Grundmotiven.) Was mich aber sehr beeindruckt hat, ist, wie Sclavi “Dead and buried” zusammenbringt mit Poes “Valdemar”. Auf diese Idee muss man erst einmal kommen: “Valdemar” behandelt ein Einzelschicksal, Mesmerismus, 19. Jahrhundert, “Dead and buried” dagegen ein ganzes Dorf in der Gegenwart. Interessanterweise versucht Sclavi damit, dem Film “Dead and buried”, der keinerlei Erklärung bietet für seine Übernatürlichkeit, so etwas wie eine logische Herleitung zu verpassen – und das funktioniert erstaunlich ausgezeichnet! Sclavi macht aus zwei völlig unterschiedlichen, interessanten Quellen ein neues Drittes (mit dem Fährmann Charon wirft er sogar noch etwas Mythologie in den Topf, enttarnt diese aber gleich wieder als “Scherz”), und erzeugt dadurch ein homogenes Ganzes, das überwiegend melancholischer Natur ist. Denn anders als in dem extrem brutalen “Dead and buried” geht von Sclavis Dorf gar keine Bedrohung aus. Deshalb darf es auch weiterexistieren und seinen unabänderlichen Traum in der “Twilight Zone” fortsetzen. Und gleichzeitig liefert Sclavi noch einen ironischen Kommentar über Kleinstädte, in denen nie etwas zu passieren scheint, in denen jeder Tag gleich ist.
Eine sehr starke, einen tiefen Eindruck hinterlassende Episode! Schön, dass es die nun endlich auch für deutsche Leser gibt.
(Und wenn man die Geschichte ganz gelesen hat, versteht man erst, dass “Stille Dämmerung” wirklich eine schöne, poetische Übersetzung des Originaltitels ist.)