Der Geist von Anna Never

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Originaltitel: Il fantasma di Anna Never, ursprünglich erschienen 1987, Italien
Autor: Tiziano Sclavi
Zeichner: Corrado Roi

Beobachtungen von Tobias O. Meißner

Man sieht schon gleich auf der ersten Seite, dass man es hier wieder mit einem richtig guten Zeichner zu tun bekommt, einer, der einen Stil hat und durchgängig weiß, was er tut. Sehr gut. Ich finde den Look von Anna Never übrigens sehr 70er-Jahre-artig.
– S. 17: Nach dem Finale bei “Jack the Ripper” jetzt neuerlich eine mordende Axt.
– S. 25: “Delirium tremensis” heißt eigentlich nur “Delirium tremens”.
– S. 27: Bei dieser schönen, typischen Hammer-Studios-Horror-Szene fiel mir auf, dass Filme mit Karpatenschlössern gerade in den 80er Jahren überhaupt nicht mehr in Mode waren. Es gab danach aber immer wieder einzeln aufflackernde Reminiszenzen, so Coppolas “Bram Stokers Dracula” von 1992 und “Van Helsing” von 2004.
– S. 28: Die Form der Kerze ganz rechts im ersten Bild ist, nun ja … eindeutig freudianisch.
– S. 36: im letzten Bild: Buster Keatons wohl berühmteste Stunt-Szene aus “Steamboat Bill Jr.” von 1928 – nur dass die Fassade bei Keaton noch größer und wuchtiger war. Hier trifft quasi der quasselstrippige Groucho Marx auf den stummen Buster Keaton, und Groucho Marx wird dabei verschüttet.
– S. 44: Wichtiger für “Dylan Dog” als die im Vorwort erwähnte Tatsache, dass “James Bond” oft in den Pinewood-Studios gedreht wurde, dürfte sein, dass dort auch einige Filme von Hammer entstanden sind, z. B. “Dracula has risen from the grave” und “Vampire Circus”.
– S. 46: Die ersten beiden Bilder sind ein weiterer Verweis auf die Filme von Dario Argento. Dass dem Helden irgendein kleines Detail zwar aufgefallen, ihm aber auch wieder entfallen ist, macht z. B. aus “Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe” und aus “Profondo Rosso” interessante Suchspiele.
– Auf den S. 46 und auch 71 macht der Zeichner genau genommen einen Fehler: Er zeichnet Grouchos Oberlippenschmuck als echten, buschigen Bart. Groucho Marx hatte jedoch keinen Bart, sondern lediglich einen aufgemaltenSchnäuzer. Teil seiner exzentrischen Persona.
– S. 49: Das dürfte wohl nicht (wie im dritten Bild vom angetrunkenen Guy behauptet) eine Maus, sondern eher eine Ratte sein, und somit möglicherweise auch ein kleiner Verweis auf Lovecrafts berühmtes “Die Ratten im Gemäuer”.
– S. 53: Der Songtext ist “Bye bye Love” von den Everly Brothers, und lautet ein wenig anders als hier zitiert, nämlich: “Bye bye love, bye bye happiness, hello loneliness, I think I’m a-gonna cry-y, bye bye love, bye bye sweet caress, hello emptiness, I feel like I could die”.
S. 54 – 57: Annas Wohnsituation in einer Abbruchgegend, umgeben von Zeichen des Unheils (schwarze Katze) schickt den Leser (verbunden mit dem Titel der Episode und Annas 70er-Jahre-Look) auf eine falsche Fährte: Man denkt die ganze Zeit, Anna sei ein Geist. Doch es ist gar nicht ihr Geist, um den es hier geht…
– S. 82: Bild 5: Hier sind – an der Wand, gerahmt – Grouchos Brüder Harpo und Chico zu sehen, und das Plakat links gehört zum Marx-Brothers-Film “Duck Soup”.
– S. 87: Der Name “Chonsky”, der Dylan hier in den Sinn kommt, ist sicherlich eine Anspielung auf den Sprach- und Kognitionswissenschaftler Noam Chomsky, dessen Arbeit im 20. Jahrhundert großen Einfluss auf die wissenschaftliche Disziplin Psychologie hatte.
– S. 89: Richard Mathesons “A Stir of Echoes” von 1958 wurde erst 1999 (dreizehn Jahre nach dieser Dylan-Dog-Episode) von David Koepp erstmals verfilmt. (Ich finde übrigens das Detail spannend, dass Dylan Guy das Buch nur geliehen, nicht geschenkt hatte. Das bedeutet, dass das Buch nach Guys Lektüre wieder in Dylans Besitz zurückging, weil dessen Rolle in der Tragödie von Guys Leben noch nicht zuende gespielt war.)
 -S. 102: Der Sturz durchs Fenster sieht ganz eigenartig aus, so, als würde Guy sich durch das Glas regelrecht hindurchwinden müssen. Vergleiche S. 36, wie man eleganter durch ein Fenster durchkommt! (Ein Zufall ist diese Dopplung des Motivs nicht, wie ich zum Ende ausführen werde.)
– S. 102: Krass, wie wenig Menschen dem Leichenwagen folgen. Guy muss wirklich ein sehr unpopulärer Schauspieler gewesen sein. Selbst vom Set seines letzten Films ist niemand gekommen.
– S. 105, zweites Bild: Der echte Grabstein entspricht genau der Filmrequisite (S. 77, drittes Bild) und den Traumvisionen (S. 78, letztes Bild). Sämtliche Ebenen gehen dadurch ineinander über,kreuzen sich anhand eines Kreuzes.
ACHTUNG SPOILER-ALARM: Das Ende dieser Episode ist Tiziano Sclavis erstes Meisterwerk in dieser Serie. Eine Möbiusschleife des Grauens geradezu.
Alles ergibt Sinn. Jede einzelne Traumvison Guys läuft darauf hinaus, dass er selbst zum Geist wird und Annas Tod herbeiführen muss. Die Axt wird erst am Ende, auf dem Friedhof, zu einer echten Axt, mit der man auch tatsächlich töten kann. (Man beachte die Betonung der Friedhofsrequisiten bereits im Filmstudio auf der Seite 85 sowie die Vorwegnahme von Guys Wiederauferstehung auf den Seiten 77 und 78. (Auf S. 78 sogar gleich zweimal in zwei unterschiedlichen Ebenen, nichts ist hier zufällig platziert. Sogar das Leitmotiv mit dem “wieder Anfangen mit Rauchen und Trinken” ist kein Zufall, denn beides kann/wird Guys Tod sein. Auch toll: Wie Dylan und Guy sich mehrmals schlagen, wenn es darum geht, Guy “aufzuwecken”, wie dieses Schlagen von Mal zu Mal mehr eskaliert, um dann am Ende vollends aus dem Ruder zu laufen).
Das Ende dieser Episode bedeutet: Dylan Dog hat diesen Fall nicht gelöst, sondern ihn herbeigeführt. Indem er (unabsichtlich) den Tod eines Freundes verursachte, der dann wiederum als Geist Anna Never töten kann. Dieses Ende ist so radikal, dass Sclavi es nur verschlüsselt schildern wollte oder durfte. Der Schrei ganz am Ende über Londons Silhouette scheint ein anonymer Schrei zu sein, aber es ist mit seinen drei “A”s und seinem einen “H” exakt Annas erster Schrei auf S. 17, Bild 2. Die ganze Geschichte ergibt überhaupt erst Sinn, wenn es Anna ist, die am Ende von Guy getötet wird. Und zwar getötet, indem ihr zuerst eine Hand abgetrennt wird, dann der Kopf. Auf S. 52 spricht sie Guy direkt an und bittet ihn, sie nicht zu töten.
Ähnlich wie den berühmten Film “The sixth Sense” kann man diese Episode gleich, nachdem man sie gelesen hat, noch einmal lesen, und wird erst dann die (An)-Zeichen und Symbole richtig zu deuten in der Lage sein. Das ist sehr, sehr intelligentes Erzählen, und übersteigt das Niveau handelsüblicher Gespenster-Abenteuerchen um ein Vielfaches! “Dylan Dog” zeigt hier erstmals, was in dieser Serie alles möglich sein wird. (Die ebenso brillante britisch-amerikanische Comicserie “Hellblazer” begann erst zwei Jahre später, die dann nochmals bahnbrechende Fernsehserie “X-Files” sogar erst sieben Jahre später.)